Das alte Lied der Wälder

Der Wald und die Märchen, Legenden und Mythen, die in ihm geboren wurden, sind so etwas wie unsere erste geistige Heimat. Den Großteil der Menschheitsgeschichte haben wir in diesen großen, grünen Wäldern verbracht, haben gejagt, haben Beeren und andere Früchte gesammelt, waren ganz an die Rhythmen der Natur angepasst und haben diese auf verschiedenste Weise geehrt. Wir haben Tiere beobachtet und von ihnen gelernt, wir haben die Kräfte der Natur wirklich hautnah gespürt, haben dem Flüstern und Rauschen des Windes zugehört, haben uns Geschichten erzählt und versucht, uns das Mysterium des Lebens gegenseitig zu erklären.

Und noch immer berührt uns der Wald auf seine eigentümliche Art, ruft uns, erzählt uns von alten Tagen, weckt unsere Sehnsucht und lässt uns ahnen, dass wir Teil dieser blühenden, wachsenden und üppigen Welt sind, dass wir selbst Natur sind.

Jeder Schritt weckt Erinnerungen

Jeder Schritt auf einem weichen, mit Nadeln und Laub bedeckten Waldboden, umgeben von grünen Riesen, die ihre Wurzeln tief in die Erde und ihre Äste weit in den Himmel strecken, weckt uralte Erinnerungen der Menschheit in uns, die von zauberkundigen Göttinnen, umherwandernden Waldgöttern und ihren Wundertieren künden. Wir atmen tief ein, werden ganz still und hören die Lieder dieser Wesen, die bis heute zwischen den Bäumen ertönen und uns etwas über das Wesen der Welt und ebenso über uns und unseren Weg berichten. Wir sehen dieses große Miteinander, wissen um das Netzwerk der Myzelien, können dieses große und schöne Gleichgewicht erahnen, und erfahren einen Lebensraum voller Wunder, den wir alle miteinander teilen, dessen Wurzeln tief in unsere Seelen reichen und der uns bewusst macht, dass wir alle zusammen ein heiliger Hain sind: Jeder Mensch wie ein Baum, einzigartig, wunderschön und wichtig, miteinander verbunden, gemeinsam wachsend und ein großes Ganzes bildend!

Gemeinsam mit unendlich vielen anderen Geschöpfen in einem großen Kreis stehend, sodass niemand seine Reise gänzlich allein antreten muss.

Foto: Deb Barnes

Fast überall auf der Welt finden wir geschichten und sagen,

die von diesem großen Kreis, von dieser tiefen Verbindung sprechen. Auch unsere heimische Mythologie ist von dieser Vorstellung geprägt, denn die Menschen früherer Zeiten wussten genau, dass Tiere ihnen großzügig ihre Unterstützung schenkten und sie in jeder Minute auf das große Ganze, auf das Göttliche hinwiesen, das alles stets umgibt und durchdringt. Tiere sind in dieser Mythologie als Ausdruck einer göttlichen Kraft verstanden worden, weshalb auch nahezu jeder Gott und jede Göttin des nordischen Pantheons zumindest einen, wenn nicht mehrere tierische Begleiter hat.

Sie sind Wesen, die fremd und doch ganz nah erscheinen – die wir Menschen nie vollständig begreifen, von deren Schönheit, Stärke und Anmut wir uns aber ergreifen lassen können. Insofern sind Tiere in gewisser Weise immer Boten des Göttlichen, die auf das wirklich Wesentliche aufmerksam machen und uns in eine wahrhaftige Begegnung mit dem Mysterium führen können, hinein in ein Staunen, hinein in eine tief empfundene Dankbarkeit.

 

Wenn wir im Wald einem Hirsch begegnen und sich dieser Moment voller Zauber ereignet, in dem weder wir noch der Hirsch uns bewegen, eine große und berührende Stille zwischen uns spürbar wird und wir uns einfach nur staunend betrachtet … dann erkennen wir das Wunder des Lebens, die Schönheit sinkt tief in uns ein und verändert uns. Vielleicht nur für den Moment, aber je öfter wir solche Begegnungen haben, desto nachhaltiger wird dieser Wandel. Eine unbestimmte Erinnerung scheint in uns auf, eine Erinnerung an Zeiten, in denen die Natur mit anderen Augen betrachtet wurde: Natur als großer Kreis, der alle Wesen umfasst. Großer Respekt, Achtsamkeit und Akzeptanz – auch sich selbst gegenüber. Alles von Heiligkeit durchdrungen und beseelt. In jedem kleinen Vogel konnte ein Gott oder eine Göttin in verwandelter Gestalt stecken, in jedem Stein ein Rat der Ältesten, in jedem Blitz oder Donner eine Botschaft und ebenso in einem winkenden Blatt am Baum oder der Formation des Vogelfluges – in allen Pflanzen, Steinen, Tieren und Menschen steckte das Heilige der Schöpfung, verwoben in einem großen Ganzen aus gleichwertigen Wesen. So innig verbunden wäre man nicht auf die Idee gekommen, das, was man vorfand, gnadenlos auszubeuten, denn man spürte, wann etwas aus dem Gleichgewicht geriet und das Gesamtgefüge nicht mehr stimmig war. Alle alten Zeremonien und Ritualen zielten darauf ab, eine Ordnung entweder zu erhalten oder wiederherzustellen, eine Harmonie und Balance zu erschaffen, wenn etwas und jemand der Heilung bedurfte oder es Krisen zu klären galt.

Foto: Diana Parkhouse

Um zu Überleben, 

galt es, geschärfte Sinne zu entwickeln, eine beständige Achtsamkeit, eine wirklich wache Weltsicht und ein in gewissem Sinne erweitertes Bewusstsein (ein Bewusstsein für den großen Kreis).

Um all dies zu schaffen, beobachtete man seit jeher die Natur, ihr Wachstum, Erblühen, Werden und Vergehen und auch die Tiere mit ihren Eigenarten. Die existenzielle Frage war immer, was man von den anderen Wesen lernen kann, um ebenfalls zu gedeihen.

Und so können wir uns bei einer Begegnung mit einem wilden Tier wie dem genannten Hirsch fragen: Was können wir in einem solchen Moment vom Hirsch lernen? Wie können wir so achtsam werden wie er? Wie können wir mit den Füßen fest auf der Erde stehen und gleichzeitig unser Geweih (unsere „Antennen“) in den Himmel strecken? Wie können wir in uns Himmel und Erde verbinden?

 

Wir entwickeln eine ganz eigene Waldweisheit und fühlen uns ganz und gar zuhause in dieser Welt, die uns eine Kraft erfahren lässt, die uns lebendig und fruchtbar macht, uns heilt und heiligt. Eine wilde, unbezähmbare, wehrhafte Naturkraft, von der wir uns einerseits hingebungsvoll tragen lassen können und die uns andererseits einen neuen Blick auf die großen Zusammenhänge schenkt, der nötig ist, um das Leben auf diesem Planeten weiterhin in all seiner Fülle zu erhalten. Wenn der Wald und sein altes Wissen – das uns in Form von Mythen und Sagen überliefert wurde – in uns wahrhaft lebendig wird, ist und bleibt, dann werden wir zu Hütern des Lebens, die in unseren Zeiten mehr denn je gebraucht werden. 

Fotos: Patrizia Stabile

Jennie Appel & Dirk Grosser

Autoren des im August erscheinenden Buches „Urkraft des Nordens“

Für alle Vorbestellenden gibt es eine ganz besondere Veranstaltung im www.sacred-web.de ! (einfach den Bon/Rechnung für die Vorbestellung aufheben und dem Autorenpaar senden an info@dirk-grosser.de !)

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Großes Beitragsbild: Austin Neill